Alice Millers Buch “Das Drama des begabten Kindes und die Suche nach dem wahren Selbst,” von 1979, gehören für mich und für viele andere zu den Büchern, die sehr aufschlussreich sind über die Reflexion der eigenen psychischen und emotionalen Gegenwart mit Blick auf unsere Kindheit.
Meine eigenen Eltern tendierten dazu, mich als “allwissende Hörende” zu idealisieren und als Verlängerung ihrer selbst zu benutzen, auf diese Weise zu überfordern und gleichzeitig als jemanden der Anderen, “hörenden” Welt zu misstrauen und zu verteufeln. So, wie ich war, mit meinen eigenen Bedürfnissen zum Beispiel nach Schwachsein, Schutz, nach dem kindlichen Spielen im verantwortungsfreien Raum, wurde ich selten gesehen. Das soll nicht heißen, dass ich lieber andere Eltern gehabt hätte, im Gegenteil. Doch diese reichlich positiven Seiten meiner Kindheit als Coda stelle ich an dieser Stelle beiseite, denn es geht mir hier um ererbte Traumata.
“Das Drama des begabten, das heißt sensiblen, wachen Kindes besteht darin, dass es schon früh Bedürfnisse seiner Eltern spürt und sich ihnen anpasst, indem es lernt, seine intensivsten, aber unerwünschten Gefühle nicht zu fühlen. Obwohl diese ‘verpönten’ Gefühle später nicht immer vermieden werden können, bleiben sie doch abgespalten, das heißt: der vitalste Teil des wahren Selbst wird nicht in die Persönlichkeit integriert. Das führt zu emotionaler Verunsicherung und Verarmung (Selbstverlust), die sich in der Depression ausdrücken oder aber in der Grandiosität abgewehrt werden. Die angeführten Beispiele sensibilisieren für das nicht artikulierte, hinter Idealisierungen verborgene Leiden des Kindes wie auch für die Tragik der nicht verfügbaren Eltern, die einst selbst verfügbare Kinder gewesen sind”, lautet die Zusammenfassung des Suhrkamp Verlags. Alice Millers Sohn Martin hat nun eine Biographie seiner Mutter geschrieben, in der er den Abgrund zwischen Theorie und Praxis aus der Erinnerung an seine eigene Kindheit aufdeckt: “Das wahre ‘Drama des begabten Kindes’: Die Tragödie Alice Millers – Wie verdrängte Kriegstraumata in der Familie wirken,” Freiburg: Kreuz Verlag, 2013.
In einem Interview im Deutschlandradio wird Martin Miller gefragt: “Nun müsste man ja schildern, was da eigentlich geschehen ist. 1950 wird ein Kind geboren in Zürich, es nimmt die mütterliche Brust nicht, es wird weggegeben zu einer Bekannten. Als der Junge sechs ist, wird eine Schwester geboren mit Down-Syndrom. Er, der Sohn, der Bettnässer kommt ins Heim, wo die Eltern ihn nie besuchen, nicht mal am ersten Schultag. Mit acht kommt er zurück in die Familie, fühlt sich als Ausländer, die Eltern sprechen miteinander polnisch, und mit 17 bittet er darum, ins Internat zu kommen, das katholisch und hart ist, aber immer noch besser als die Familienhölle. Das könnte eine Fallgeschichte aus der Praxis der berühmten Psychologin Alice Miller sein, das war aber Ihr Leben, Herr Miller. Da müssen Sie sie doch gehasst haben.”
Alice Miller überlebte den zweiten Weltkrieg als einzige ihrer polnisch-jüdischen Familie. Sie war aus dem Warschauer Ghetto geschmuggelt worden und kam unter einem falschen Namen bei einer katholischen Familie unter. Nach dem Krieg ging sie in die Schweiz und wurde sie zu einer der einflussreichsten Psychoanalytikerinnen unserer Zeit, wandte sich jedoch von der klassischen Psychoanalyse ab. Sie schrieb 2006 eine Biographie über ihre Kindheit “Bilder meines Lebens.”
Martin Miller antwortet im Interview: “Man muss das von einer ganz anderen Seite her betrachten. Jemand, der in einer ganz bestimmten Art und Weise, ich will mal sagen, eine Strategie entwickelt hatte, zu überleben, der kann, wenn das vorüber ist, nicht einfach so aussteigen. Meine Mutter konnte nicht ihr Trauma verarbeiten. Heute haben wir Möglichkeiten, aber auch die werden noch viel zu wenig genutzt.”
Miller hat eine Biographie seiner Mutter geschrieben, die ihn selbst einschliesst, und zwar jenseits der Kindlichen Haltung, die die schuldigen Eltern hasst oder idealisiert. Er ist selbst Psychologe geworden und versucht seiner Mutter als Erwachsener zu begegnen und sich zu lösen.
Ich denke, diese reife Auseinandersetzung könnte eine sehr spannende Lektüre sowohl für Coda Eltern als auch für Codas selbst sein. Einer der selten so präsenten Möglichkeiten, sich selbst mit über Generationen vererbten Traumata auseinander zu setzen. Inwiefern wir als Codas Traumata geerbt haben könnten, möchte ich mit diesem Gedanken anstoßen: Wenn unsere Eltern als “taub-stumme” Wesen von ihren Eltern abgelehnt worden sind aufgrund ihrer Andersartigkeit, wie gehen unsere tauben Eltern, wenn sie selbst Kinder bekommen, die “anders” sind als sie, mit diesen Kindern um? Haben sie überhaupt den Zugang zu Möglichkeiten der Verarbeitung ihrer Traumata, von denen Martin Miller spricht, um diese in ihrer Elternrolle reflektiert einzubinden? Wie viele von uns sind im Entweder-Oder der Verschmähung und Idealisierung unserer Eltern gefangen?
Hier finden Sie eine Leseprobe des Verlags. Viel Freude beim Lesen!